High Five,
eigentlich sollte es ein ganz anderes Buch werden. Ich wollte über die Sachen schreiben, die ich als Gründer einer Firma gelernt habe. Die Hälfte war fertig. Im Januar dieses Jahres wollte ich es zu Ende bringen und jetzt veröffentlichen. Doch am ersten Schreibtag habe ich es überhaupt nicht mehr gefühlt. Beim Lesen der fertigen Kapitel stellte sich nichts ein. Es passte nicht in die Zeit und gerade auch nicht zu mir. Was nun? Ich fragte mich, was ich denn jetzt am Allerliebsten machen möchte. Die Antwort kam schnell. Beim Mittagessen erzählte ich Stephanie davon und sagte, dass ich eigentlich Lust hätte, mich wieder in die Gespräche aus dem Hotel zu vertiefen und darüber zu schreiben, was ich von meinen Gästen gelernt habe. Sie war ziemlich überrascht. Und mein Verlag Piper war es auch.
Eine der ersten Sachen, die ich dann geschrieben habe, war die Einleitung zum Buch. Nachdem Stephanie und mein Verlag diese gelesen hatten, konnten sie meine Entscheidung voll verstehen. Und heute möchte ich diese Einleitung mit euch teilen.
Nächste Woche Donnerstag erscheint mein neues Buch “Die Akademie meines Lebens”. Gerade in den letzten Jahren habe ich gelernt, dass es die einfachen Antworten nicht gibt. In der Akademie geht es vor allem um Denkanstöße - und noch ein bisschen mehr um mich.
Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr reinlest und noch mehr, wenn es wieder bei euch auf dem Nachttisch landet.
Vielen Dank
Euer Matze
EINE EINLADUNG
Das neue Jahr hatte gerade erst angefangen, aber es knallte mir schon mit voller Wucht vor die Füße. Den geplanten Urlaub hatte uns das Auswärtige Amt ausgeredet, die Auszeit wurde von unvorhergesehenen Terminen geschluckt. Meiner Familie fiel im Lockdown die Decke so richtig auf den Kopf. Die Firma hatte das erste Coronajahr zwar wirtschaftlich überlebt, aber meine Kollegen und Kolleginnen waren emotional komplett runtergebrannt. Und dann war da noch die Außenwelt. Immer, wenn ich schaute, was jenseits meiner Welt passierte, brüllte mir ein Geschehnis-Tsunami aus verhärteten Meinungen, hirnrissigen Verschwörungstheorien und panischen Überschriften entgegen. Einerseits wusste ich, dass es mir im Vergleich zu den Menschen, die ihre Liebsten oder ihre Existenz verloren hatten, noch gut ging, andererseits musste auch ich die Tür nach außen schließen, gut verriegeln und versuchen, möglichst wenig davon an mich ranzulassen.
Seit Monaten hatte ich keine Sonne gesehen. Die einfachsten Fragen konnte ich nicht mehr beantworten. Zum Beispiel: Wie geht’s dir, Matze? Wann treffen wir uns mal? Und sonst so? Ich hatte mich viel zu lange nicht mehr bei Freundinnen und Freunden oder bei meiner Familie gemeldet. Ich war von allem überfordert. Wo war er, der ausgeglichene Matze? Der saß am Schreibtisch und starrte vor sich hin, während in ihm der Wunsch wuchs, dass das Leben doch bitte wieder etwas unkomplizierter werden sollte. Obwohl ich Veränderungen zumeist offen entgegentrete, hatte ich eine große Sehnsucht, dass es sich wieder leicht, sich bitte wieder einfach anfühlen sollte.
Im Frühjahr fuhr ich für ein paar Tage aufs Land. Ich musste raus, ich musste allein sein. Mein Smartphone, das längst Bildschirmzeiten jenseits aller Rechtfertigungsmöglichkeiten erreicht hatte, ließ ich zu Hause. Auch meinen Laptop und sämtliche anderen internetfähigen Geräte. In meinem Rucksack war ein Buch, in das ich schreiben, eins, das ich lesen konnte, und ein paar Klamotten. Schön einfach.
Am dritten Morgen zog ich mir meine Laufschuhe an und lief los. Durch den knorrigen Wald, den ich schon kannte, vorbei am Fluss, über die Landstraße zum See, einmal Hallo sagen und wieder zurück. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich die Abzweigung zu meiner Unterkunft verpasste. Egal. Ich lief weiter, schließlich konnte ich mich am Seeufer orientieren und würde einfach die nächste Möglichkeit zurück nehmen. Doch die kam und kam nicht, und so bog ich ungeduldig irgendwann ab, lief über eine Anhöhe und landete im Wald. Ich versuchte die Himmelsrichtung, aus der ich ursprünglich gekommen war, zu erahnen. Zwischen den Bäumen entdeckte ich endlich ein paar Autos. Super, das musste die Landstraße sein, die mich zurückführen würde. Ich lief minutenlang weiter, nichts kam mir bekannt vor. Endlich hielt ein Auto, abgehetzt fragte ich nach dem Gutshof. Die Fahrerin schaute mich mitleidig an und zeigte in die Richtung, aus der ich und sie gerade gekommen waren. Ich sollte immer geradeaus und an der zweiten Möglichkeit dann links laufen. »Aber es ist wirklich sehr weit.«
Und das war es. Ich hatte mich komplett verlaufen. Mein Kopf versuchte, meinen Fehler nachzuvollziehen, unmöglich in diesem Moment und vor allem sinnlos. Ich ärgerte mich über mich selbst, darüber, dass ich nicht aufgepasst hatte, dass ich kein Handy mitgenommen hatte, aber vor allem darüber, dass ich ohne Handy anscheinend gar nicht mehr in der Lage war, mich zu orientieren. In fucking Brandenburg!
Nach ein paar Hundert Metern, vielleicht war es auch ein Kilometer, flogen diese Gedanken nach und nach davon. Ich nahm die Situation stoisch an, lief nur noch vor mich hin, und es stellte sich etwas ein, was ich ganz lange nicht mehr gefühlt hatte: eine Befreiung, eine Akzeptanz der Situation und meiner selbst. Ab und zu überholte mich ein Auto, und irgendwann war ich so high vom Laufen, dass ich die Arme ausbreitete und ein paar Meter mit geschlossenen Augen rannte.
Ich musste an ein Gespräch mit Ferdinand von Schirach denken, das ich vor einem Jahr in meinem Podcast Hotel Matze geführt hatte. Der Autor sagte ganz am Ende, dass es die einfachen Antworten nicht gibt und dass es sie auch nie gegeben hat. Ich konnte mir noch so sehr wünschen, dass das Leben wieder weniger kompliziert würde – es würde nicht passieren. Der Philosoph Markus Gabriel bringt es auf den Punkt, indem er sagt: »Du musst dein Leben verkomplizieren.« Man braucht sich gar nicht anzustrengen, man kann die immer größer werdende Komplexität im Außen nicht verringern. Und dann fiel mir noch die Ökonomin Maja Göpel ein, mit der ich eine Woche vor meiner Auszeit geredet hatte. Sie spricht von der Ambiguitätstoleranz, vom Aushalten der inneren Widersprüche.
Und aushalten, das musste ich jetzt auch. Nach über zweieinhalb Stunden war ich wieder zurück am Gut Wendgräben. Ich war fix und fertig, aber so froh darüber, dass ich mich verlaufen hatte. Dieser zu einem Vormittag ausgedehnte Morgen zählt zu den schönsten Stunden des ganzen Jahres 2021. Ich hatte mich lange nicht mehr so leicht gefühlt.
In den folgenden Monaten strebte ich bewusst danach, gerade in meinem Podcast häufiger Zeit mit Menschen zu verbringen, die meine Perspektive erweiterten. Mein Anspruch war es schon immer, möglichst nah an meine Gäste heranzukommen. Das wollte ich noch vertiefen. Statt meinem Wunsch nach Vereinfachung nachzugeben, hielt ich fortan nach Perspektiven Ausschau, die meinen Vorhang zur Welt möglichst weit aufziehen sollten. Die Gespräche wurden länger, vielseitiger und tiefgründiger. Nach manchen Begegnungen fühlte es sich so an, als wäre ich mit dem jeweiligen Gast an jenem Morgen gemeinsam im Wald gewesen, denn auf ganz ähnliche Weise fühlte ich mich erschöpft und gleichzeitig energetisiert. Ich habe nie mein Abitur gemacht, Universitäten und Akademien habe ich immer nur am Tag der offenen Tür und bei Partys von innen gesehen. Aber ich stelle mir vor, dass gute Seminare und Vorträge genauso sind, wie ich es oft im Hotel Matze erlebe.
Ich bin Matze Hielscher, bei Buchabgabe 42 Jahre alt, und lebe mit meiner Familie in Berlin. Meine Schulzeit verlief alles andere als optimal. Der schönste Tag in meiner Jugend war der letzte Schultag, das sagen viele, aber ich bin dabei geblieben. Ich war dann elf Jahre Bassist bei der Band Virginia Jetzt!, habe nach der Trennung das Medienhäuschen Mit Vergnügen mitgegründet und 2016 meinen Interview-Podcast Hotel Matze gestartet. Während eines Sabbaticals stellte ich fest, dass die Gäste zu den besten Lehrerinnen und Lehrern meines Lebens gehören. Durch sie habe ich so viel über die Welt, die Menschen, die Kunst, das Leben und über mich selbst erfahren. Die Kinderrechtsaktivistin Marian Adleman sagte einmal: »You can’t be, what you can’t see.« Ich sehe am deutlichsten durch andere Menschen, was möglich scheint, ich sehe in ihnen Wegweiser, Warnschilder und Utopien. Vor zwei Jahren ist aus den Erkenntnissen und Notizen mein erstes Buch Die Schule meines Lebens entstanden.
Wie damals habe ich mich zum Beginn dieses Jahres zurückgezogen, die vielen Gespräche noch einmal angehört und mich gefreut, tiefer einzutauchen, zu reflektieren und neu zu erkunden, denn vieles fing an zu verblassen, und einiges hatte ich sogar schon vergessen. Beim Abhören der Gespräche habe ich einen Tick bei mir entdeckt. Immer dann, wenn ich ein tiefes »Mmmh« von meiner Seite gehört habe, konnte ich mir einen Marker setzen, ich wusste, da war ein Erkenntnisgewinn. Genau diese Erkenntnisgewinne sind der Grund, warum die Gespräche im Hotel Matze so wertvoll für mich sind und warum mich der Podcast auch nach 200 Gesprächen überhaupt nicht langweilt. Im Gegenteil, ich habe sogar das Gefühl, dass es jetzt erst richtig interessant wird.
In diesem Buch sammle ich die Erkenntnisse der letzten zwei Jahre, die für mich die eindrücklichsten neuen Perspektiven eröffnet haben. Es sind Begegnungen, die mir den Menschen als verdammt kompliziertes Wesen nähergebracht haben. Es sind Begegnungen mit dem Tod, der Natur, mit dem Glauben, der Liebe, der Kunst, mit Pferden, einem Hund und meinen eigenen Verhaltensweisen und Mustern. Die Menschen, von denen sie kommen, sind ziemlich außergewöhnliche und komplexe Wesen. Sie stehen im Scheinwerferlicht, weil ihr Talent, ihre Ambitionen und eine gewisse Portion Glück sie dahin gebracht haben. Es sind aber keine Übermenschen, das merkt man, wenn man das Vergnügen hat, mit ihnen ein paar Stunden im imaginären Hotelzimmer oder an der Hotelbar zu verbringen. Sie sind alle wahnsinnig unterschiedlich, und doch haben sie eine große Gemeinsamkeit: ihren Zweifel. Ihren Zweifel gegenüber dem eigenen Schaffen, den eigenen Gedanken und dem Istzustand der Welt. Nichts von dem, was sie sagen, scheint unverrückbar. Es sind keine endgültigen Aussagen. Was du hier liest, ist nur ein Erkenntnisstand, jeweils vom Tag unserer Begegnung.
Früher wollte ich meine Gespräche möglichst zeitlos führen, das war in den letzten zwei Jahren nicht möglich. Die ersten Gespräche führte ich zu Beginn der Pandemie, die letzten fanden während des Krieges zwischen Russland und der Ukraine statt, und dazwischen bleibt die Klimakrise. Die Herausforderungen unserer Zeit schieben sich wie tektonische Platten übereinander, so beschreibt es mir Claudia Roth. Das hinterlässt Spuren bei meinen Gästen, bei mir und auch in den Kapiteln dieses Buchs. Von den 100 Gesprächen aus den letzten zwei Jahren habe ich die ausgewählt, die bei mir die größte Resonanzerfahrung erzeugt haben. Ich habe mich bemüht, möglichst wenig in das Gesagte einzugreifen, weil ich nicht nur wichtig finde, was jemand sagt, sondern auch, wie jemand etwas sagt. Manches musste ich verkürzen, in eine andere Reihenfolge bringen, und natürlich spricht auch niemand druckreif.
Dieses Buch ist eine Einladung, dich mit meinen Gästen und mir ans Fenster zu stellen. Lass uns uns gemeinsam in den Glasscheiben spiegeln, dann ganz nah herantreten und schauen, was da draußen zu sehen ist. Manches wird dir gefallen, anderes nicht. Und wenn es richtig gut läuft, dann treten wir gemeinsam vor die Tür und gehen uns eine Runde verlaufen.
Schön, wenn du dabei bist.
Dein Matze
Hier kann man das Buch bei Thalia / Piper / Hugendubel / Dussmann / Amazon / Genial Lokal vorbestellen. Natürlich empfehle ich vor allem, im lokalen Buchhandel vorbeizuschauen.
Lieber Matze, das Interview mit dir und Ulrike Herrmann ist für mich herausragend. Ich werde mir Ausschnitte dieser Folge noch ein oder zwei Mal anhören. Und, ich werde mir Frau Herrmanns Buch „Das Ende des Kapitalismus“ besorgen. Die Inhalte sind wirklich keine leichte Kost für mich, da ich endlich Wohlstand erreicht habe - und ich mich in meiner Komfortzone zugegebenermaßen sehr wohl fühle. Trotzdem bin ich sehr sehr dankbar für diesen Podcast, der emotional tief rüttelt und das Bewusstsein nachhaltig schärft. Vielen Dank dafür, Monika
Lieber Matze, das ist eine wunderschöne Einleitung. Ich freu mich auf dein Buch und: Save-the-date: 31.12.2029. :) Liebe Grüße nach Berlin: Kathleen