High Five,
Ich bin zurück aus Japan und versuche noch immer zu begreifen, was ich gesehen habe. Japan ist ein Rätsel in Form eines Landes. Man kann in diesem Rätsel leben, man kann umhergehen, schauen, sitzen und liegen. Staunend versucht man, die Variablen zu verbinden – doch in dem Moment, in dem man meint, des Rätsels Lösung gefunden zu haben, zerfällt es in sich. Ein genialer Zauber, eine Simulation, eine Erfahrung, die man gemacht haben sollte.
„Wie war’s?“, fragt nun die Familie, fragen Freunde. Man selbst fragt sich das nicht, weil man weiß, dass dieses Land nicht in die reiseüblichen Kurzbeschreibungen passt. Die erwartete Orientierungslosigkeit blieb aus. Denn auch, wenn man die Zeichen so gar nicht versteht, sind sämtliche öffentliche Wege so gestaltet, dass man am Ende doch da ankommt, wo man hin möchte – auch, wenn man eigentlich ganz woanders hin wollte.
In den zwei Wochen waren wir in Tokio, Kanazawa, Kyoto und im Hakone-Nationalpark. Wir sahen Tausenden beim Überqueren von Kreuzungen zu, legten den Kopf zur Seite im Zen-Garten, schauten in den Nebel statt auf den Mount Fuji, erkundeten Tempel, Gärten, Viertel, aßen scharf, rechneten um, saßen auf beheizten Klobrillen, lagen in Onsen, rochen das Nichts der Stadt Tokio. Wir zählten die Dinge, die achtlos auf den Boden geworfen wurden (ein Zahnstocher, ein Preisschild und ein Taschentuch in zwei Wochen) – und wunderten uns.
Wir wunderten uns vor allem darüber, wie sehr dieses Land die Andersartigkeit kultiviert und man sich dennoch so sicher darin fühlt. Und wir fragten uns, wie das alles zusammenpasst: Der Sinn für die Gemeinschaft, aber die Vereinzelung der Menschen; der technologische Fortschritt und die anwesende Spiritualität; die ernsten Gesichter und ihre niedlichen Accessoires.
Die Bewohner blieben undurchsichtige Funktionswesen – ein bisschen wie Non-Character-Player in einem Computerspiel. Man kann sie ansprechen, sie freuen sich zu helfen, denn sie wollen helfen – aber nicht uns, sondern weil es zu ihrer Rolle gehört. Es ist nichts Persönliches, auch nichts Seelenloses, doch ihr Gemütszustand scheint das Staatsgeheimnis Nummer eins zu sein. Und es hat mich erschrocken, wie ansteckend diese Distanz ist.
Wir bemerkten es am letzten Tag in der Bahn. Eine ältere Frau sprach uns an. Ihr Englisch war sehr schlecht. Sie wollte wissen, woher wir kommen, was wir erlebt haben. Sie tippte in ihr Handy, ließ es übersetzen, erzählte uns so von ihren Kindern und Enkeln und vom Konzert, auf dem sie war. Es hat ein paar Augenblicke gedauert, bis ich sie nicht mehr argwöhnisch betrachtete – denn nach zwei Wochen der freundlichen Distanz dachte ich zuerst, sie wäre etwas verrückt. Doch sie war einfach die einzige Japanerin, die ernsthaft mit uns geredet hat.
Die ersten Tage in Berlin erlebte ich im Halbschlaf. Ich sah den Müll auf der Straße (ein benutztes Kondom, eine Scheibe Käse, eine Kommode in fünf Minuten), beobachtete die Menschen und stellte fest, dass Deutschland auch ein Rätsel ist.
AUS DEM HOTEL
Ranga Yogeshwar war da. Er ist für mich ein Beispiel für eigenständiges Denken, für eine ungebremste Neugier; ein Mensch, der trotz allem zuversichtlich bleibt. Unser Gespräch war persönlich, philosophisch und für manche sicherlich auch kontrovers.
Mit der Autorin Caroline Wahl werde ich noch häufiger sprechen. Sie ist mutig, witzig, wütend und zart und steht dazu. Eine gekürzte Aufnahme von unserem Abend auf der lit.COLOGNE gibt es hier.
Apropos live: Am 16.05. bin ich in Kiel auf der Bühne. Ich freue mich auf den Abend mit der Sozialpsychologin Dr. Johanna Degen. Wir werden über Dating und Liebe sprechen. Am 09.06. bin ich in Zürich im Kaufleuten und am 12.07. in Hamburg beim Mit Vergnügungspark. Kommt vorbei!
MEINE HIGH FIVES! DER WOCHE
1. Ein Alarm
Wenn es Euch wie mir geht, dann werdet ihr nach diesem TED Talk schlechte Laune, Wut und Verteidungsnotwendigkeit empfinden. Die Journalistin Carole Cadwalladr sagt darin: „Wir beobachten den Zusammenbruch der internationalen Ordnung in Echtzeit, und das ist erst der Anfang“. Sie beschreibt den technologischen Umsturz, der gerade stattfindet und den Aufstieg der „Broligarchie”. Es geht um Daten, Autokratien und letztendlich um Macht. Ein kleiner Satz, den wir uns alle merken sollten: ”Privacy is power.”
2. Eine Erneuerung
Ich habe die Autorin Magdalene Gössling auf einem Schreibworkshop von Daniel Schreiber kennengelernt. Magda las damals die ersten Seiten aus ihrem Erfahrungsbericht vor. Mit 32 Jahren hatte die Chirurgin einen Schlaganfall und verlor dabei die Fähigkeit zu sprechen. Poetisch und klar erzählt sie, wie es ist, wenn das eigene Leben wie eine Schale zerbricht und wieder zusammengesetzt werden muss. Nach den ersten Seiten beim Workshop war klar, dass daraus ein Buch wird. Ihr Debüt “Wieder werden” ist inzwischen erschienen und sehr empfehlenswert.
3. Eine Fotografin
Im Flugzeug habe ich “Die Fotografin” geschaut. Kate Winslet spielt darin die Kriegsfotografin Lee Miller. Im Film sieht man den zweiten Weltkrieg durch die Augen einer Fotografin, durch die Augen einer Frau. Auf Apple TV kann man den Film sehen.
4. Ein Song
Betterov hat einen neuen Song und singt darin von Newslettern, die sein Postfach fluten. Ist dieser hier auch dabei?
5. Ein Zitat
Freiheit bedeutet weniger eine Fülle von Wahlmöglichkeiten, sondern vielmehr die Befreiung von der Last einer zu großen Auswahl. — Pico Iyer
✌🏻
Ich wünsche Euch ein wunderschönes Wochenende.
Euer Matze
Sooo hervorragend be-und geschrieben!!!
Herzlichen Dank 🤗🌼
Danke Matze für diese tolle Japan Umschreibung. Jetzt möchte ich noch viel lieber dahin! Btw, wenn Du AppleTV hast, kann ich ‚Shrinking‘ allerwärmstens empfehlen ✨